Von Aurel Schmidt
Was wir mit den Augen in der realen Welt sehen, tragen wir als inneres Bild längst mit uns herum. Da eines der Themen von Marceline Schmid Landschaften sind, liegt es nahe, dass sie von einer Idee von Landschaft, die sie sich gemacht hat, ausgeht, wenn sie malt. Nicht zufällig ist der Begriff Idee im Sinn von Vorstellung, Einfall, Annahme vom griechischen Verb idein abgeleitet, das soviel wie sehen und erkennen bedeutet.
Das Auge sieht etwas, nimmt es auf und verarbeitet es. Das ist die Beschreibung, wie der praktische Vorgang vom Sehen zum Malen führt. An dessen Ende steht die erfolgreiche Angleichung des Bildes der äusseren Welt mit dem inneren Bild, das die Künstlerin in sich aufbewahrt.
Es kann also nicht darum gehen, die Wirklichkeit als Vorbild zu nehmen, nicht einmal darum, die als Vorbild angenommene Wirklichkeit in eine künstlerische Form – in das Kunstwerk – zu übersetzen, etwa am Beispiel einer Landschaft. Wer heute das Abbild mit dem Vorbild in Verbindung bringt, ist in einem schrecklichen Irrtum befangen.
Auf etwas anderes kommt es entscheidender an. Das ist die Arbeit auf der Leinwand, der Umgang mit Farbe, die Realisierung des Werks. Einige von Marceline Schmid tragen den Serientitel «Auen am Wasser», andere «Waldgängerei». Dass hier keine realistischen Landschaften gemeint beziehungsweise zu sehen sind und niemand durch einen Wald geht, ist ziemlich klar. Genauso klar ist aber auch die Tatsache, dass durch die Farbe sich die Bildoberfläche wie eine Landschaft ausbreitet und die Bewegung der Augen einen Gang über oder durch das Bild vollzieht, wie man eine Landschaft oder einen Wald durchstreift und sich von allen Seiten Eindrücke einstellen.
Räumlicher Eindruck
Dass viele Bilder, vor denen der Betrachter seine Position einnimmt und verschiebt, einen räumlichen Eindruck hervorrufen, liegt unter anderem auch an den oft körpergrossen Formaten.
Auf zahlreichen Werken kommt Blau durch Überlagerungen und Schichtungen auffallend häufig vor und löst verschiedene Assoziationen aus. Die Farbe breitet sich aus und umfängt den Menschen mit offenen Armen. Kommt ein Grün als Gegenfarbe und Kontrast hinzu, steigert sich die raumgreifende Wirkung noch weiter. Ein Gelb kann wie ein Lichtstrahl von aussen in das Bild einfallen und ein hingesetzter markanter Strich im Bild den Anschein von Tiefe hervorrufen.
Farbe wird zum Raum einer angenommenen Landschaft, aber noch mehr zu einem Raum aus Farbe – zu einem Farbraum –, den zu betreten zu einem imaginären Akt wird, der mit dem Betrachten zusammenfällt.
Eine meditative Ruhe breitet sich aus, die an einen anderen Serientitel von Marceline Schmids Werken erinnert: «… aufgehängt an der Ostwand der Seele, in Augenhöhe». Er stellt einen Bezug zum östlichen Denken her, das im Werk der Künstlerin stärker vertreten ist, als es zunächst erscheinen will. Er ruft ins Bewusstsein, dass das Licht, das die Farben zum Vorschein bringt, aus dem Osten kommt.
Absichtsloses Tun
Die grossformatigen Bilder lassen sich nicht planmässig ausführen. Dadurch, dass die Künstlerin dem Impuls sozusagen freie Hand lässt, entfallen Kontrolleingriffe und können die Werke anfangen zu fliessen, zu expandieren, sich selbständig zu machen. Der Pinsel wird zur Verlängerung der Hand, des Arms und zuletzt des Körpers. Malen ist zunächst eine körperliche Tätigkeit. Diese Feststellung stimmt mit der Idee des östlichen Denkens insofern überein, als Kunst dadurch entsteht, dass die Künstlerin selbst zum Pinsel werden muss, um malen zu können. In «Fülle und Leere», dem Buch des französisch-chinesischen Autors François Cheng über das chinesische Kunstverständnis, ist vom «leeren Handgelenk» die Rede; in westlichen Begriffen könnte man von absichtslosem Tun sprechen.
So, wie Marceline Schmid aus dem Repertoire der Ideen, die sie in sich aufbewahrt, schöpft und sich dabei keinem Zwang ausliefert, entstehen ihre Werke. Sie fallen ihr zu. Auch dieser von der eigenen Person abstrahierende Akt des Produzierens ist noch von der Philosophie des Ostens beeinflusst. Vorbereitende Skizzen gehören zur inneren Sammlung, damit danach die fliessende Ausführung in einem entspannten Verfahren erfolgen kann.
Während bei den grossen Formaten «das Bild mehr weiss als Du», wie Marceline Schmid einräumt, während also das Unbewusste die spontane Ausführung übernimmt, verhält es sich bei ihren kleinformatigen Arbeiten völlig anders. Bei der «Chine-collé» genannten Technik dominiert das Handwerkliche im genauen Wortsinn: die Arbeit und der Umgang mit zufälligen Papierstücken, die arrangiert, geklebt und gepresst werden, ist reine Handarbeit. Hier ist es möglich, in den Entstehungsvorgang einzugreifen und ihn zu steuern.
Zwei Vorgehensweisen stehen zur Disposition und geben Gelegenheit, bei der Entstehung des Werks zwei entgegengesetzte Methoden zu verfolgen. Die eine besteht in einem Entstehen-Lassen, der andere im einem Akt des gewollten Machens. Beide ergeben für Marceline Schmid ein Ganzes.
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